Dienstag, 5. September 2023

So hoch wie nie

 Trotz vollem Bauch und bleieernen Beinen finde ich den Schalter nicht, um den Kopf auszuschalten. Holger atmet gleichmäßig, doch bei mir hilft kein Schafe zählen. Also lese ich noch und versuche es eine Stunde später noch einmal. Aber entweder bimmeln die Schafglocken vor der Tür oder auf der Straße nähert sich ein Fahrzeug. Gegen Mitternacht schaue ich letztmalig auf die Uhr und dann schaffe ich es bei Schaf 101.

Meine innere  Pilgeruhr lässt mich 7Uhr hellwach in den Tag schauen, aber Holger schläft friedlich. Also lese ich, bis er ausgeschlafen hat. 

Bei der Morgenhygiene sinniere ich über die Unterschiede zu Hause und hier nach. Was daheim Bodymilch ist, ist hier Sonnencreme. Hautcreme und Augencreme ist nicht im Rucksack gelandet. Dafür verwöhne ich meine Füße mit Hirschhorntalg und die angespannten Muskeln mit Pferdegel. Wellness pur.

Das Frühstück wurde als sehr üppig angekündigt, doch wir Deutschen sind verwöhnt, denn es war eher übersichtlich.  Holger meint:" Hau rein", denn unterwegs ist heute nur Natur pur.

Gesagt, getan und 9 Uhr starten wir in den Tag. Wetterprognose für heute: 10 Stunden Sonne und 32°C. Verrückt!

Doch noch schafft es die Sonne nicht über den Berg und so laufen wir im erfrischenden Schatten leicht bergan durch den Ort. Am Ende geht es bergab über einen Bach, auf Almwiesen dann stetig bergauf.


Eine kleine Hütte am Weg wäre ein hübsches Refugio. Autark mit Solar und Bergwasserquelle. Romantisch.

Dann schafft es die Sonne in sekundenschnelle über den Gipfelgrat und wir laufen im gleißenden Sonnenlicht weiter bergan. Der Schweiß rinnt ab jetzt. 


Bald geht es ein Stück am Hang entlang, etwas bergab und dann steil zur Staumauer Barrage du Toules, welche 1963 erbaut wurde, bergauf. Uns führt der Weg oberhalb entlang, sodass wir einen genialen Blick auf das 450m lange und 86m hohe Bauwerk haben.Dort haben findige Geschäftsleute eine " Restauration" aufgebaut. 



Uns ist es zu früh und so wandern wir in ständigem bergauf und bergab immer oberhalb des Stausees entlang. Jede Kurve bietet einen anderen, gigantischen, grandiosen Blick in die Bergwelt und mein Herz hüpft vor Freude, meine Gedanken jubilieren. Es ist so wahnsinnig schön und wir fühlen uns allein in der Welt. Dabei klebt auf der anderen Seite des Sees die Passstrasse wie ein Wespennest am Hang. 

Bald sind wir am Fuß des Sees und im Wasser wurden Solarpaneele installiert. Diese Schweizer wärmen das Stauseewasser auf, aber Baden ist verboten! Wer versteht das?😉


An einer Furt bietet sich ein Bad der Füße im eiskalten Gebirgsbach an. Holger holt die Picknickdecke raus und wir genießen ein ausgedehntes Päuschen im Sonnenschein. Hier weht ein lauer Wind, sodass meine Socken trocknen. Der Berg rauscht, der Himmel ist strahlend blau und wir blicken auf riesige Bergmassive. Herz was willst du mehr.





Bevor es weiter geht tauchen wir die Kopfbedeckung ins kalte Nass und setzen sie auf. Fünf Sekunden fühlt es sich kalt an, doch dann ist es angenehm. Dies behalten wir den ganzen Tag bei, denn die Sonne scheint kräftig. Ein leichter Wind erfrischt etwas, sodass es weniger anstrengend ist, als gedacht. Der Rucksack sitzt heute perfekt und ich habe mich an das Gewicht gewöhnt. Bei steileren Aufstiegen versuche ich daran zu denken, das linke Bein mehr zu belasten, um mein rechtes Knie etwas zu schonen und so komme ich schmerzfrei durch den Tag. Ein weiterer Grund dankbar und glücklich zu sein.

Der Weg führt über unzählige Furten und laut Pilgerführer sollten wir heute mehrmals nasse Füße bekommen, doch keine ist so tief, dass wir nicht über die darin liegenden Steine hoppeln könnten.

 Wir hören ein Murmeltier leise Pfeifen, doch unser Blick gleitet erfolglos über den Hang.





Je höher wir steigen, desto niedriger die Vegetation. Riesige Kuhschellen- Blatt- Kissen lassen die Blütenpracht des Sommers erahnen. Doch auch jetzt blüht es noch an vielen Stellen und die Moosbeeren leuchten rot im grünen Blattwerk.

Bei steilen Passagen konzentriere ich mich auf die gleichmäßigen Schritte, Stöcke vor (einatmen) ...3 Schritte hoch( ausatmen)...Stöcke vor...Der Atem fließt und der Weg wird dadurch weniger anstrengend.

Am La Pierre, auf 2039 m, entdecken wir auf einem alten, verlassenen Steinhaus ein Murmeltier, dass sich unaufgeregt putzt und sonnt, bevor es verschwindet. Wir laufen hier wieder einmal steil bergab und plötzlich pfeift das Murmeltier extrem laut und schrill, sodass wir zusammen zucken.





Nun kommen wir an die Passstrasse und rechts, auf einem kleinen Plateau steht ein Wohnmobil aus dem Schwarzwald. Mir ist nach einem Kaffee zu Mute und ich frage Holger, ob ich fragen soll. Kaffee habe ich dabei, doch unser Wasser ist nur lauwarm😅. Holger will keinen Kaffee und ich glaube ihm ist es furchtbar peinlich. Doch Camper sind nette Leute und ich bekomme heißes Wasser. Der Fahrer bietet Holger ein kaltes Radler an und das lockt ihn dann doch und er kommt mit rüber. So unterhalten wir uns total nett, während mein Kaffeewasser kocht und der Kaffee mir extra stark ( 2 Stiks auf 100ml) durch die Kehle rinnt. Der Camper hat eine Hose mit einem wunderbaren Motto an, dass ich fotografieren darf.



Wir bedanken und verabschieden uns herzlich. Auf geht es, die letzten Höhenmeter rufen.

 Wir queren die Passstraße, und laufen an der anderen Seite wieder steil bergauf. Ein neues Bergpanorama eröffnet sich unserer Bewunderung und ich merke, dass ich die ganze Zeit grinsend durch die Welt spaziere. Es ist so faszinierend hier oben. Mehrmals laufen wir an Kühen vorbei, Wanderer begegnen uns äußerst selten. Jetzt verläuft die Passstrasse auf der anderen Seite in gefährlich aussehenden Serpentinen bergauf und es gibt hin und  wieder Staus, weil die Kurven sehr eng erscheinen.




Unser Weg führt uns von der Straße weg in einen neuen Bergeinschnitt und endlich ahnen wir das Ende des Aufstieges. Die Panoramen in jeder Richtung sind magisch. Nochmal richtig steil laufen wir denselben Weg über den Napoleon einmal seine Armee geführt hat, Waren auf Karren importiert oder exportiert wurden und schon unzählige Pilger nach Rom gelaufen sind. Die Steine glänzen in verschiedenen Farben in der Sonne und flüstern leise ihre Geschichten.




Dann endlich, nach 6 Stunden Glücksgefühl, sind wir auf 2473m Höhe auf den Grand Saint Bernard aufgestiegen. Was für ein Erlebnis! Noch nie bin ich einen Pilgerweg über diese Höhe gelaufen.  Noch nie war die Natur so präsent, gigantisch, genial, einsam.... und plötzlich laufen jede Menge Leute um uns herum.







Wir schauen, staunen und gehen in die Herberge des Klosters, wo wir heute im Dortoir (Schlafsaal) übernachten. Der Empfang ist freundlich, mit einem Boule Tee. Der Schlafsaal ist eher ein Zimmer mit 4 Stockbetten. Noch sind wir allein und suchen uns die unteren Betten aus.




Nach einer heißen Dusche setzten wir uns in den Aufenthaltsraum, wo es sogar WiFi gibt. Wir essen unseren Apfel und Nüsse. Holger hört Musik und döst ein bissel und ich schreibe hier meine Gedanken nieder.

Ich freue mich auf den Gottesdienst am Abend und auf die Laude am Morgen. Hier fühle ich mich nicht nur dem Himmel sehr nahe. Ich bin voller Dankbarkeit, dass wir diesen Weg behütet laufen können. 


Der katholische Abendmahlsgottesdienst wird von den fünf Brüdern und einer Schwester in der Krypta gehalten. Ich verstehe nur ein paar Worte, doch ich kann mich in die Atmosphäre mit dem Gesang still versenken.

In der barocken Kirche entdecke ich ein wunderbares Marienbild und blicke ihr fasziniert in die Augen. Ein anrührendes, ikonenartiges Bild.


Anschließend sind wir zum Abendessen im Refektorium. Die Tische sind gedeckt und überall stehen die Namen, wer heute gemeinsam zu Tisch sitzt. Ich suche Hubert und finde...


HUBERT ist hier ein gängiger Vorname 😇.

Eine Deutsche spricht uns an und fragt nach unserem Weg. Sie erzählt, dass sie bis Rom läuft. Als wir fragen wie lange, meint sie, sie brauche die 50 Etappen nicht, sie sei schneller. Ich sage, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass nicht das schnelle Ankommen wichtig ist, sondern dass der Weg genossen werden darf. Das gefällt ihr scheinbar nicht und sie dreht sich abrupt um und zeigt uns den Rücken. C' est la vie - jeder, wie er mag.

Das Essen verläuft in gelöster Stimmung. Neben uns sitzen Franzosen und Holger erzählt, was wir vorhaben, schon gelaufen sind... Als mein Tischnachbar erfährt, dass ich Vegetarierin bin, will er mir gleich ein Spezialmenü bestellen. Wir müssen ihn ernsthaft zurückhalten. Auf die Wurst kann ich verzichten, Suppe, Lauch, Linsen, Brot  und ein göttlicher Tarte aux Citron, lassen mich satt werden.

Inzwischen geht die Sonne recht unspektakulär unter. Da der Himmel völlig wolkenlos ist, plumpst sie einfach hinter dem Gipfel runter 



                                Bonne nuit!






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen